To play or not to play Hamlet


Dramaturgin Kerstin Grübmeyer im Gespräch mit dem Regieteam von »Hamlet«, Regisseur Laurent Chétouane und Ausstatterin Sanna Dembowski, über die Probenarbeit und die Inszenierung.

 

Kerstin Grübmeyer: Laurent, in Deinen Theaterarbeiten steht die Sprache im Zentrum und mit Körper und Raum in einem besonderen Verhältnis. Wie hat sich Deine Handschrift entwickelt?

Laurent Chétouane: Das Interesse für das Hören und die Texte war von Anfang an da. Was ich über die Jahre noch entwickelt habe, ist ein Bewusstsein für die Technik des Sprechens. Wie vermittele ich den Schauspieler:innen, die Sprache so zu führen, dass die Texte hörbar werden? Das Ziel ist, den Text so zu sprechen, dass eine Differenz entsteht, zwischen dem Körper und was er auf der Bühne tut – und dem, was er spricht. Erst, wenn das nicht genau zusammen-, sondern momenthaft auseinanderfällt, kann ich die Texte wirklich hören und verstehe, worum es eigentlich geht.

KG: »Hamlet« scheint in dem Sinne das perfekte Stück für Dein Theater zu sein – hier wird ständig das Zuhören und Lauschen thematisiert – und auch das Spielen.

LC: Ja, bei Shakespeare sind die Situationen nie nur illusionistisch, er thematisiert immer auch das Theater, das Spielen, man fällt sozusagen immer wieder zurück auf die Bühne. Es ist auch nicht so einfach, das zu spielen: Man muss einsteigen in die Situation, aber nicht zu viel – sonst kommt man nicht mehr raus und schafft den Absprung in die nächste Szene nicht. Und die Szenen wechseln eigentlich wie Prospekte, da spürt man noch die Ästhetik des Globe Theaters, mit seinem Podest, seinen schnellen Auftritten und Abgängen.

KG: Du lädst die Spieler:innen dazu ein, noch nichts über die Situation zu wissen, wenn sie den Text sprechen. In »Hamlet« werden fast alle dramatischen Wendungen von Zufällen bestimmt. Beinflusst die Dramaturgie des Stücks auch die Spielweise?

LC: Es ist erst einmal die Sprechtechnik, die sie dazu bringt, dass sie im Sprechen erfahren, wo der Text und die Situation hingeht. Aber auch die Zufälle in der Handlung zwingen die Spieler:innen zu einer gewissen Präsenz in der Gegenwart. So dass die Schauspieler:innen nicht auf einen Plot bauen und uns zu sehr eine Geschichte erzählen, die sie schon durchschauen. Shakespeares Dramaturgie arbeitet auch die ganze Zeit gegen die Idee einer Vorhersehbarkeit oder Logik des Geschehens. Alle wesentlichen Impulse sind zufällig – allen voran die Ankunft der Schauspieltruppe im Stück, die Hamlet die Idee zur »Mausefalle« gibt. Nach der Aufführung der »Mausefalle« ist nichts mehr wie es vorher war.

KG: Was bedeutet »die richtige Art zu sprechen«?

LC: Es hat damit zu tun, wie die Spieler:innen sich aussetzen: den Kolleg:innen, dem Publikum, dem Raum. Dass sie wissen, dass sie angeblickte Wesen sind. Normalerweise haben Schauspieler:innen eine Rolle, die wie eine Maske oder ein Schirm funktioniert, der sie vor den Augen des Publikums verbirgt, hinter dem sie sich verstecken können, wie ein Schutz. Wenn ich sage: ich will sehen, dass du weißt, dass du auf einer Bühne bist und angeschaut wirst, dann müssen sie sich überlegen: Wie stehe ich auf einer Bühne, damit das Publikum sieht, dass es mich sieht? Klingt ein bisschen philosophisch kompliziert, aber es ist eigentlich ganz konkret. Es geht darum, die Begegnung mit dem Blick der Zuschauer:innen zuzulassen. Dadurch entsteht eine andere Art von Präsenz. Das ist ein gewaltiger Akt, für manche. Es konfrontiert einen mit sich selbst. Der Rollenschutz einer Figur ist weg. In meinem Theater kommt keine Figur auf die Bühne, sondern immer erst ein Schauspieler, eine Schauspielerin. Die Person setzt ihren Körper den Blicken des Publikums aus und fängt dann erst an, zu sprechen und dabei sich selbst zuzuhören. Dadurch entsteht eine kleine Kluft, ein Moment, in dem die Sprache mit dem Körper nicht mehr ganz eins ist, und wir sehen die Körper der Schauspieler:innen plötzlich plötzlich ganz offen und naiv vor uns, wie ein Bild von Cézanne.

KG: Die Kostüme spielen dabei auch eine große Rolle. Wie unterstützen sie diese Spielweise?

Sanna Dembowski: Wir arbeiten mit Teilen aus unterschiedlichen Epochen und Ästhetiken, die auf unterschiedliche Kontexte verweisen – manche sehen historisierend aus, fast klischeehaft, andere kommen aus der Alltagskleidung der Gegenwart. Es ist für mich kein durchgebautes Konzept, sondern entsteht im Machen, ich muss eher abtasten, was geht, was nicht, was ist zu viel, was zu wenig, bis es stimmt. Im Grunde geht es um das Ausbalancieren der Bedeutungen. Jedes einzelne Teil erzählt etwas, aber in der Zusammensetzung von verschiedenen Zeitebenen und Ästhetiken heben sie sich gegenseitig auf oder lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Als würden die Kostüme sagen: Ich bin nicht so gemeint. Sie bleiben in einem »Dazwischen«.

KG: Wir spielen die Übersetzung von Heiner Müller. Dadurch schwingt auch dessen Text »Die Hamletmaschine« mit; er geistert durch unsere Proben wie der Geist von Hamlets Vater. Laurent, Du hast mal gesagt: »Die Hamletmaschine« kann man nicht ignorieren, wenn man »Hamlet« macht.

LC: In Müllers Text heißt es u.a.: »Ich war Hamlet, Ich spiele Hamlet. Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Mein Drama findet nicht mehr statt.« Das mitzudenken bedeutet, sich die Frage zu stellen, ob man heute überhaupt noch »Hamlet« spielen kann. Wie kann man sich dieser Rolle annehmen? Die Suche nach der Antwort auf diese Frage ist für mich in der Arbeit zentral. Und Müller stellt das in den Raum. Wie kommen wir nach »Die Hamletmaschine« mit diesem Stück wieder auf eine Bühne? Vielleicht über das Sprechen und Hören der Texte.

KG: Die politischen Aktualisierungen »Hamlets« sind zahlreich – und auch heute könnten wir das Stück auf aktuelle politische Ereignisse beziehen. Interessiert Dich diese politische Dimension?

LC: Eine politische Interpretation von »Hamlet«, wie Müller sie 1990 machte, als er »Die Hamletmaschine« mit Shakespeare verband, ist heute unmöglich, zumindest für mich – die Welt ist heute eine ganz andere, noch komplexer vielleicht? Aber vor allem: Es interessiert mich nicht, das Stück auf eine bestimmte Deutung festzulegen. Deswegen versuche ich auch, das Stück als Text zu nehmen, als Sprache, und kein politisches Statement draufzupacken. Auch, weil ich glaube, dass das nicht die Stärke des Stücks ist. »Hamlet« fragt: Kann die Bühne uns heute überhaupt noch etwas erzählen? Ich könnte Stunden darüber sprechen, aber ich treffe keine Entscheidung, die eine eindeutige Deutung vorgibt. Mir geht es auch noch um etwas anderes, nämlich um die Frage: Kann das Theater heute noch die Komplexität der menschlichen Seele erzählen? Und gibt es heute immer noch so eine Seele? Die Komplexität der Vorgänge, die Shakespeare ausbreitet: familiäre Konstellationen, Machtkonstellationen, wie er über die Poesie ein Psychogramm der Figuren erstellt – haben wir dazu heute noch einen Zugang? Können wir noch nachvollziehen, was bei »Hamlet« abgeht, wenn man ihn nicht zusammenstreicht, damit er in eine bestimmte Deutung »passt«?

KG: Hamlet lässt vor König Claudius das Stück »Die Mausefalle« spielen, um ihn als Mörder zu überführen. Er probiert sozusagen aus, ob die Macht des Theaters so weit reicht. Für Dich ist »Hamlet«, also das Stück selbst, eine Mausefalle. Inwiefern?

LC: Wenn wir den Stücktext selbst als »Mausefalle« sehen, ist die Frage: Was soll er bei den Zuschauer:innen auslösen? Welcher Teil ihres Gewissens wird berührt, angesprochen? Was verstehen wir beim Schauen über die Macht oder die Funktion des Theaters? Das Stück hat ein gewisses Geheimnis, im Grunde unlösbar, und trotzdem – oder deswegen – sind wir darin gefangen, werden davon überrascht. Jeder und jede wird in unterschiedlicher Weise mitgenommen. Und das läuft über das Hören. Hamlet sagt, wir wollen ein Stück hören. Und er will den Blick des Königs sehen, also den Blick des Zuschauers. Wir stellen auch eine »Mausefalle« auf, nicht, um zu überführen, aber vielleicht schon, um auch die Zuschauer:innen mit sich selbst zu konfrontieren. ↤